Sektenmitglied in der Familie – was tun nach dem ersten „Schock“?

Was muss das für ein Gefühl sein, wenn die eigene Tochter, der Bruder, die Mutter, der Vater oder eine gute Freundin in die Fänge einer Sekte geraten ist. Was für ein Knall, was für ein „Schock“! Eine Welt scheint zusammen zu fallen und alles, was man fühlt, sackt gefühlt in’s Bodenlose. Man sieht schrittweise, wie sich die Person nach und nach im negativen Sinne verändert, kann aber nichts dagegen tun. Man fühlt sich sehr hilflos und auch verzweifelt…

Es ist normal und verständlich, wenn man in so einem Augenblick höchstwahrscheinlich mit Wut, Aggression, Vorwürfen und einer grossen Portion Kritik reagiert. Aber ist dies der richtige Weg? Personen, die von Sekten plötzlich sehr angetan sind, sie vergöttern und behaupten, einen neuen Sinn in ihrem Leben gefunden zu haben, sind leider alles andere als diskussionsfreudig. Sie wollen nichts hören, was nur im Ansatz kritisch ist, sie fühlen sich in diesem Moment extrem stark und beflügelt, sie fühlen sich zu 100 % im Recht, dass das, was sie tun, der einzige und absolute richtige Weg ist. Dazu muss man als Angehöriger wissen, dass es in Kulten eine gängige Praxis ist, sogenannte “Sprengfallen” einzurichten, d.h. Kulte bereiten neue Mitglieder auf Kritik von aussen vor. Kritisiert man als Angehöriger also die Gruppierung, denkt das Mitglied “Oh, die Gruppe hat ja in ihrer Vorhersage recht!” und so kann es passieren, dass sich das neue Gruppenmitglied noch mehr mit der Gruppe verbunden fühlt. Denn vor Eifersucht, ungerechtfertigter Kritik und Unverständnis wurde ja schon gewarnt… So kommt es, dass indoktrinierte Menschen super und lieb gemeinte Warnungen einfach ignorieren.

Entweder das Umfeld findet diese persönlichen Veränderungen und Entwicklungen genial oder ein zermürbender und womöglich langer Streit ist vorprogrammiert. Und dann gibt es bei Scientology ja noch der Befehl „Disconnect“, der Trennungsbefehl von der eigenen Familie und Freunden – dies dürfte auch bei anderen Sekten nicht viel anders ablaufen. Plötzlich reisst der Kontakt mit den geliebten Eltern, Kindern und Freunden einfach ab.

Mit zunehmender Zeit ist die Manipulation / die Gehirnwäsche bereits soweit fortgeschritten, dass eine emotionale, persönliche Annäherung auf gleicher Ebene gar nicht mehr möglich sein wird.

Ganz wichtig ist jedoch, der betroffenen Person interessiert Fragen zu stellen. Am besten offenen Fragen, die sich nicht mit Ja und Nein beantworten lassen können. Also z.B.

  • „Was ist die Philosophie dieser Gruppierung“?
  • „Was sind die Ziele, was wird versprochen, aussergewöhnliches zu erreichen“?
  • „Was ist das Endziel, das es zu erreichen gilt“?
  • „Welche Person ist der Gründer oder der oberste Boss“?
  • „Was suchst Du denn ganz genau, was erhoffst Du Dir davon“?
  • „Was findest Du denn besonders gut daran“?
  • „Was ist der Auslöser, dass Du dich plötzlich dermassen gut fühlst“?
  • „Wieso fühlst Du Dich plötzlich so anders, besser, stärker“?
  • „Welche Veranstaltungen besuchst Du“?
  • „Welche Bücher musst Du Lesen oder was musst Du Lernen, um weiterzukommen“?
  • „Wie ist der Umgangston mit den Mitgliedern?“
  • „Kannst Du mir mindestens einen Punkt nennen, der Dir an / in der Gruppe nicht gefällt?“
  • „Wurdest Du bereits einmal in die Schranken gewiesen oder sogar bestraft“?
  • „Musstest Du bisher längere Einzelgespräche führen oder intensiv Kurse besuchen oder Bücher lesen“?
  • „Wenn ja, um was ging es ganz genau, wie musst Du Dich verändern, dass Du dort auf offene Ohren stösst“?
  • “Was für ein Aufwand, was für Kosten müssen in Kauf genommen resp. wie viel Geld muss in Bücher, Kurse, Seminare investiert werden“?

Diese Informationen sind sehr wichtig, denn erst wenn ihr mehr wisst, könnt ihr euch an eine staatliche oder kirchliche Informationsstelle wenden. Nur mit Facts könnt ihr sicherstellen, um welche Sekte es sich handelt, wie gefährlich sie ist und was für Erfahrungen andere Personen gemacht haben.

Sehr wichtig ist es aber auch, aufmerksam zuzuhören, ohne die geliebte Person sofort zu unterbrechen, ohne ein „Aber“ in die Runde zu werfen. Macht euch Notizen über Kontakte innerhalb der Sekte, schreibt die Argumente auf, die das Mitglied aufzählt, wenn es begeistert von der neuen Gruppe erzählt. Ein Tagebuch zu führen kann sich auch im Nachhinein als sehr hilfreich erweisen! Gefühlsausbrüche und negative Kraftausdrücke bringen laut der von uns gesammelten Erfahrung überhaupt nichts. Vermeidet das Wort “Sekte”! Wer will schon einer Sekte angehören!? Dies löst nur sofort Streit, Wutausbrüche und demzufolge in vielen Fällen einen Gesprächsabbruch aus. Dann ist die Situation da, die man eigentlich hätte vermeiden wollen: Wut, Hass, böse Worte, lauter Streit, Unverständnis, Panik und Davonlaufen und eben vielleicht der sofortige Kontaktabbruch, den man, falls möglich, unbedingt vermeiden sollte!  Es ist leider meistens eine Illusion, wenn man sich vorstellt und hofft, in einem einzigen Gespräch alles Klarstellen und die geliebte Person zum Aussteigen bewegen zu können.

Erzählt ohne Vorwürfe von den wahrgenommenen Änderungen, die vermutlich alle abgestritten werden. Geht behutsam und empathisch vor. Lasst die betroffene Person spüren, wie sehr euch alles mitnimmt und wie traurig ihr dem Ganzen zuschauen müsst. Sagt, dass ihr euch Sorgen macht und erwähnt mögliche Gefahren. Erwähnt ebenfalls, dass es sehr wichtig ist, sich auf verschiedene Wege ein Bild über diese „Kirche“, „Vereinigung“ oder „Gruppe“ zu machen – eine einseitige Darstellung genügt nicht und ist sehr gefährlich. Vielleicht kann man anführen, dass man sich auch vor dem Abschluss eines Handyvertrages oder einem Autokauf gründlich über die Bewertungen des favorisierten Produkts informiert. Fragt, ob das Mitglied mindestens eine Sache sagen kann, die ihm / ihr an der neuen Gruppe eventuell missfällt!?

Und es ist sehr wichtig, Hilfe anzubieten! Für jemanden einfach da sein, jemanden in die Arme nehmen, auch ohne Worte. Einfach für jemanden da sein, ohne Vorwürfe zu machen.

Eine andere Möglichkeit ist, die geliebte Person mit anderen Aussteigern in Kontakt zu bringen, sei es bei einem persönlichen Treffen und später in Selbsthilfegruppen.

Wenn ihr regelmässigen Kontakt mit einer in eine Sekte hineingezogene Person habt, ist es extrem wichtig, dass dieses Thema nicht die ganze Zeit angesprochen wird. Vermutlich werden so oder so immer weniger spezifische Themen von der betroffenen Person angesprochen und die Diskussion läuft dann auf allgemeine Themen heraus. Aber vielleicht kommt die betroffene Person von sich aus auf dieses „heisse“ Thema, dann hört einfach mit viel Ruhe und Gelassenheit zu, auch wenn dies sehr schwer ist. Seid aber wachsam! Sektenmitglieder sind indoktriniert und versuchen ihre Ansichten von der “guten Sache” weiterzugeben, besonders auch an Menschen, die ihnen nahestehen. Dies meint das Sektenmitglied keinesfalls böse, es ist halt von der “guten Sache” überzeugt und glaubt daran. Seid als Angehörige bitte nachsichtig gegenüber dem Sektenmitglied!

Viele Sektenmitglieder haben selbst oft sehr grosse Zweifel, aber diese dürfen sie eigentlich gar nicht äussern. Betroffene sind durch diese Gehirnwäsche extrem verunsichert und verängstigt. Nach Aussen müssen sie aber ein Bild vermitteln, dass sie stark sind, dass sie sich besser fühlen und dass alles wunderbar ist. Bedenkt bitte, dass soziale Kontakte praktisch in allen Sekten zerstört werden und sich die betroffenen Personen alleine fühlen.

Zudem werden Sektenangehörige so manipuliert, dass die eigene Tochter, Sohn, Mutter, Vater, Freundin oder Freund kaum mehr wieder zu erkennen ist. Die Identität, das persönliche Charisma, die auffallenden Charakterzüge scheinen plötzlich verloren gegangen zu sein. Nur ihr kennt jedoch genau diese Person sehr gut – erinnert sie an frühere Zeiten, an Gefühle und gemeinsame, schöne Erlebnisse. Zeigt, wie wichtig euer gegenüber für euch ist!

All dies benötigt sehr viel Zeit, Mut, Kraft und Hoffnung auf eine bessere Situation. Auch wenn alles noch so schlimm ist, fokussiert euch nicht nur auf dieses Problem – es wird euch definitiv herunterziehen. Versucht Kraft zu tanken mit Spaziergängen oder schönen Momenten, die euch guttun. Denn ihr werdet viel Kraft und Energie brauchen, sich immer wieder mit einer solchen Person auseinanderzusetzen, besonders wenn es eine geliebte Person in eurem direkten Umfeld ist.

Macht kleine Schritte und hofft, dass das ganze „nur eine zwischenzeitliche“ Phase ist. Es gibt in jeder Sekte und überall viele Aussteiger, die irgendwann erkennen, wie sie ausgenutzt und manipuliert worden sind. Seid geduldig, auch wenn es schwerfällt! Man darf sich nichts vormachen: es ist natürlich ein langer und sehr steiniger Weg – für die Betroffenen und für euch selbst. Gebt nie auf, tankt Kraft und seid liebevoll hartnäckig!

Und eines ist ganz wichtig: Ihr habt nicht versagt, es ist nicht eure Schuld, wenn eine geliebte Person in die Fänge einer Sekte gerät.

Leider gibt es keine „perfekte“ Vorgehensweise, jeder Fall ist einzigartig und muss individuell angeschaut werden. Es gibt also kein ultimatives Rezept und keine „goldene“ Regel, wie ein/e Angehörige/r aus einer Sekte herausgeholt werden kann.

Etwas Positives dennoch zum Schluss: Gemäss Wilfried Handl (hochrangiger Aussteiger aus Wien) zweifeln 75 % aller Sektenmitglieder an der jeweiligen Sekte und an ihrem eigenen Tun – nur trauen sie sich nicht darüber zu sprechen.

Es gibt also Hoffnung. GEBT NICHT AUF!!

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